Tottenham-Unruhen: ein friedlicher Protest, dann brach plötzlich die Hölle los

2011-08-20-tottenham-18

Feuer wütet am Samstagabend in einem Gebäude in Tottenham im Norden Londons, während der schlimmsten Unruhen seit Brixton. Foto: Lewis Whyld / PA

Paul Lewis, guardian.co.uk, Sonntag 7. August 201, 20.52 Uhr

Gefragt, ob die Londoner Polizei langsam auf die Tottenham Unruhen reagiert hätte, antwortete Kommandant Adrian Hanstock: „Nein, überhaupt nicht. Der Bericht, der uns von draußen am Sonntagmorgen erreicht hat, korrelierte nicht mit Ereignissen, die sich Stunden davor mehrere Meilen entfernt im Norden Londons zugetragen hatten.

Was als eine Versammlung von rund 200 Demonstranten begonnen hat, die Aufklärung über den Tod von Mark Duggan forderten, der von der Polizei am Donnerstag erschossen wurde, gipfelte 12 Stunden später in einem großen Aufruhr mit dreisten Plünderungen, die sich auf die Nordlondoner Vorstädte verteilten.

Um 5 Uhr kamen beim Tottenham Hale-Einkaufszentrum noch immer Jugendliche heraus aus den Geschäften in die Morgendämmerung, die Taschen und Einkaufswagen vollgestopft mit gestohlenen Waren, und liefen in die Seitenstraßen.

Einige Polizisten hatten eine Handvoll Plünderer festgenommen, andere hatten ihre Handys aus und machten Fotos von einem ausgebrannten Auto.

Genau zur gleichen Zeit ereigneten sich auch Plünderungen fast zwei Meilen entfernt, auf der Wood Green High Street, wo etwa 100 Menschen stundenlang Autos in Brand steckten und in Geschäfte auf der High Street einbrachen. Einige füllten sogar Koffer.

Doch für die Polizei - die behauptet hatte, die Krawalle sechs Stunden vorher eingedämmt zu haben - war da niemand in Sicht.

Die Polizei, in der Sonntagnacht eingesetzt wurde, sagte, es habe 55 Festnahmen gegeben und 26 Polizisten seien verletzt worden. Doch die Hauptsache der Unruhen am Wochenende war nicht die Zahl der Verletzten, sondern das Ausmaß der Zerstörung von Eigentum.

Über den gesamten Stadtteil verteilt, waren Geschäften, Bars, Banken und sogar Wohnhäuser geplündert und angezündet worden.

Feuerwehrleute versuchten, einen Brand in einem Aldi-Markt und einen weiteren Brand in einem Gebäude mit einem Teppichgeschäft nur wenige hundert Meter entfernt zu löschen. Beides waren große Brände, die - abgesehen von den Ausschreitungen – von sich aus schon besondere Ereignisse in den Nachrichten gewesen wären.

Das waren – nach allem, was man hört - die schlimmsten Unruhen dieser Art seit den Brixton- Unruhen im Jahr 1995. Schockierte Bewohner standen an diesem Morgen auf, sahen die verbrannten, mit Schutt übersäten Straßen und stellten zwei Fragen. Warum hatte dieser Aufstand begonnen? Und wie konnte er sich so ausbreiten?

Die Menge, die sich vor Tottenhams Polizeistation um 17.30 Uhr versammelt hatte, war, wie berichtet wird, friedlich. Die Demonstranten waren Leute aus der Umgebung, Bezirkspolitiker und einige von Duggans Verwandten, darunter seine Verlobte, Semone Wilson.

Die Demonstranten beklagten, dass die Polizei und die unabhängige Beschwerdestelle der Polizei (IPCC), die den Tod Duggans untersucht, mit ihnen nicht kommunizieren wollte.

Wilson, sagte man, sei gezwungen worden, die IPCC anzurufen, um die Leiche zu identifizieren. Andere Verwandte hatten zum ersten Mal von Duggans Tod erfahren, als sie sein Foto in den Nachrichten sahen.

Aufgrund der anscheinend eingeschränkten Kommunikation füllte sich das Vakuum mit Gerüchten.

Es gab Geschichten über Duggan, dass er mit Handschellen gefesselt erschossen wurde. Andere berichteten, er habe 15 Minuten, bevor er getötet wurde, ein SMS an Freunde gesendet, in dem er schrieb, er stecke in einer Klemme, sei aber ok.

Es gab Sprechchöre: „Wir wollen Antworten“, aber die Teilnehmer sagten, der Protest sei gutmütig gewesen. Die Demonstration, von der die Organisatoren geglaubt hatten, sie werde nicht länger als eine Stunde dauern, wurde zunächst von Frauen angeführt, die Wilson begleiteten, die drei Kinder vom 29-jährigen Duggan hat.

Was in den nächsten vier Stunden passiert ist, wird kontrovers diskutiert. Doch es ist klar, dass die Spannungen schrittweise zunahmen, als die Polizei nur ein wenig Interesse zeigte, mit den Demonstranten zu sprechen.

Einige Teilnehmer erzählten, sie hätten eine jüngere, aggressive Menschenmenge in der Abenddämmerung herankommen sehen, einige trugen Waffen. „Diese Leute waren vorbereitet“, sagte Bill Dow, ein Zuschauer. „Sie hatten Feuerwerkskörper und Benzinkanister mitgebracht.“

Die Organisatoren des Protests verneinten dies und sagten, die Polizei habe verabsäumt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Schließlich sei ein Kriminalkommissar herausgekommen und habe mit Duggans Verwandten gesprochen. Doch der, so die Organisatoren, sah ein, dass ein höherrangiger Beamter mit ihnen sprechen sollte.

Stafford Scott, ein Sozialarbeiter, sagte, die Polizei sei „absolut“ schuld daran, weil sie auf deren Forderungen nach einem Dialog nicht reagiert hatte.

„Ich sagte dem Kriminalkommissar persönlich, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit weggehen wollten“, sagte Scott. „Wenn er uns bis nach Einbruch der Dunkelheit hier herumhängen ließe, würde das auf seine Kappe gehen. Wir konnten nicht garantieren, dass die Sache nicht außer Kontrolle geriet.“

Scott sagte, der Kriminalkommissar habe versprochen, ein höherer Beamter würde mit den Leuten sprechen.

Als niemand kam, sagten die Organisatoren, richtete sich die Wut einiger jüngerer Männer gegen zwei Polizeiautos, die in Brand gesteckt wurden.

Duggans Verwandte sollen den Ort verlassen haben, als die Unruhen begannen. Sein Bruder, Shaun Hall, distanzierte sich im Namen der Familie von den Unruhen am Samstagabend.

Er sagte, es habe einen „Domino-Effekt“ gegeben, aufgrund der offenen Fragen zum Tod seines Bruders, sagte aber, die Familie wolle die Gewalt, die im Namen des Bruders verübt werde, „überhaupt nicht tolerieren.“

Andere Anwesende sagten, der Funke für die Ausschreitungen sei ein bestimmtes Ereignis gewesen, das ein 16-jähriges Mädchen betroffen habe, die um etwa 20.30 Uhr vortrat, um die Polizei mit den Forderungen zu konfrontieren, und Antworten verlangte, aber mit Schilden und Schlagstöcken angegriffen wurde.

„Sie schlugen sie mit einem Schlagstock, und dann fing die Menge an zu schreien Lauf, lauf', und dann gab es einen Hagel von Geschossen“, sagte Anthony Johnson, 39. „Sie hat gesagt: Wir wollen Antworten, kommen Sie und sprechen Sie mit uns.“

Laurence Bailey, der in einer nahe gelegenen Kirche war, wollte gesehen haben, wie das Mädchen Flugblätter auf die Polizei warf, in denen vielleicht einen Stein gewesen sein könnte.

Bailey sagte, das Mädchen sei dann von vielleicht „15 Schilden niedergeschlagen“ worden. „Sie stürzte zu Boden. Aber sobald sie es geschafft hatte, wieder aufzustehen, wurde sie wieder geschlagen, bis sie sich von ihrem Freund weggeschleppt worden ist“, sagte er.

In gewisser Weise spielte die Wahrheit über den angeblichen Vorfall mit der 16-Jährigen keine Rolle; das Gerücht, dass die Polizei ein Mädchen angegriffen hatte, reichte als Zündfunke.

In einem YouTube-Clip, in dem man mehr als eine Stunde später brennende Polizeiautos und gewalttätige Kämpfe sieht, ist ein Randalierer zu hören, wie er andere aufstachelte: „Hast du nicht gesehen, wie die Feds sich das Mädchen vorgenommen haben? Mann, komm schon!“

Um 22 Uhr wurde ein Doppeldeckerbus in Brand gesetzt und in Geschäfte - meist örtliche Unternehmen - auf der High Road eingebrochen. Überall auf den umliegenden Plätzen und Straßen marschierten Jugendliche dreist mit gestohlenen Fernsehern, Stereoanlagen, Handys und Lebensmitteln.

Dem Aussehen nach waren die Randalierer rassisch gemischt. Die meisten waren Männer oder Burschen, einige offenbar erst 10.

Doch Familien und andere Anwohner, repräsentativ für diesen Stadtteil - Schwarze, Asiaten und Weiße, darunter auch einige chassidische Juden aus der Tottenham-Gemeinde – versammelten sich, um die Lage zu beobachten und die Polizei zu verspotten.

Einige ergriffen Defensivmaßnahmen. Die Besitzer eines türkischen Supermarkts stapelten Kisten mit Mineralwasser vor dem Laden auf, um einen Einbruch zu verhindern. Ein Gebäude mit einem Blumenladen wurde in Brand gesetzt, dort war auch das Prince of Wales-Pub.

Polizisten, einige auf dem Pferden, versuchten um Mitternacht die Kontrolle über einen 200-Meter-Abschnitt auf der High Road Landstraße zu übernehmen, damit die Feuerwehr gegen die wütenden Brände vorgehen konnte.

Die Randalierer hatten sich aber in die Seitenstraßen zurückgezogen oder waren weiter nach Norden gewandert, wo sie einen Aldi Supermarkt plünderten, bevor sie ihn in Brand steckten. Der Brand beleuchtete, zusammen mit einem Feuer, das eine Carpetright-Filiale zerstört hatte, den Himmel.

„Soll ich ehrlich sein? Fick die Polizei“, sagte Reeko Young, 24, der sich mit Freunden auf einer nahegelegenen Querstraße getroffen hatte, um Fotos von den Unruhen auf dem Handys auszutauschen.

Young sagte, er habe nicht an den Gewalttaten teilgenommen, sei aber wie viele von den Gerüchten über Duggans Tod wütend geworden.

Er zeigte eine von mehreren BlackBerry- „BB“-Nachrichten, die verbreitet wurden, die darauf hindeuteten, daß Duggan aus kürzester Entfernung in das Gesicht geschossen worden war.

Sein Freund Jermaine Smith, 24, hatte eine andere Botschaft, angeblich von einem Polizisten aus Tottenham zugespielt, der berichtete, dass die Waffe, die verwendet wurde, um Duggan zu töten, noch immer nicht gefunden worden sei.

Alle schienen sich einig, dass die Waffe, die Duggan getragen hatte und angeblich dazu verwendet hatte, um auf die Polizei zu schießen, tatsächlich schon gefunden worden war, in einer Socke verpackt.

„Die Menschen empfinden den Mord an Mark als sehr ungerecht“, sagte er. „Wir alle kennen die Polizei und die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten. Wir glauben nicht, dass ihre Geschichten darüber, wie er gestorben ist, stimmen; ich glaube es nicht, auch die Leute glauben es nicht.„

Young and Smith waren unter den Dutzenden jungen Männern und Frauen, die Zuflucht in Nebenstraßen gesucht hatten, um die Flammen auf der High Road zu beobachten. Aber in den frühen Morgenstunden eskalierten die Unruhen mit Plünderungen, die sich in alle Richtungen ausbreiteten.

Um etwa 1.30 wurden die BBC- und Sky News-Teams der High Road angegriffen. Beide Nachrichtensender zogen alle ihre Mitarbeiter zu ihrer eigenen Sicherheit aus diesem Bereich zurück.

Einige der erschütterndsten Szenen ereigneten sich, als die die Fernsehkameras verschwunden waren. Südöstlich der High Road stürmten Gruppen ins Tottenham Hale-Einkaufszentrum.

In rascher Folge zerschlugen sie auf ihrem Weg die Türen oder Fenster der Filialen von Boots, JD Sports, O2, Currys, Argos, Orange, PC World und Comet. Die meisten gingen schnurstracks zu den Regalen, während andere die Registrierkassen herausrissen oder Lagerräume heimsuchten.

Nordwestlich von der High Road errichteten Jugendliche, ausgerüstet mit militärisch anmutenden Sturmhauben und Schlagstöcken, brennende Barrikaden und griffen Autofahrer an, die sich den ausgeplünderten Geschäften näherten.

Aber es war die Ansteckung des nahe gelegenen Wood Green, was sich am surrealsten herausstellte.

Von etwa 2.30 Uhr an begannen Jugendliche in die High Street-Geschäfte einzubrechen. Ohne irgendwelche Intervention von Seiten der Polizei, und die Plünderer kontrollierten das Gebiet rund drei Stunden lang, bis die Bewohner intervenierten.

Ein Mann, der von seiner Freundin zurückgehalten wurde, protestierte gegen eine Gruppe, die in einen Lidl-Supermarkt eingebrochen war, nachdem er entdeckt hatte, dass sein Auto zu einer ausgebrannten Karre geworden war.

„Kämpf nicht, es gibt zu viele von ihnen,“ rief seine Freundin, als vier Jugendliche vorbeirannten und mit gestohlenen G-Star Jeans prahlten.

Auf der angrenzenden Straße fuhr ein junger Mann, etwa wie 14 aussehend, in Schlangenlinien auf einer Seitenstraße in einer vermutlich gestohlenen Audi hin und her.

Die meisten Aktionen geschahen allerdings auf der High Street. Gaming Läden und Handy-Filialen waren ebenso das Ziel wie Kleidergeschäfte.

In große HMV- und H & M-Filialen wurde auch eingebrochen. Die meisten Plünderer versuchten, ihre Gesichter mit Tüchern zu verhüllen, aber zu stehlen war lässig, mit den Leuten, die sich Zeit nahmen, das Vorhandene zu durchsuchen und - in einem Vorgarten – das Diebsgut auszutauschen.

Es ist vielleicht nicht überraschend, dass die Unruhen in Tottenham - eine der wirtschaftlich am meisten benachteiligten Regionen des Landes – von einer solchen Anzahl die Situation ausnützender Diebstähle begleitet wurden. Aber auch in den frühen Morgenstunden waren die Ausschreitungen war nicht ohne eine gewisse soziale Symbolik. „Mörder“, rief ein Mann, der eine Stereoanlage umklammerte, als ein Polizeiwagen um etwa 3.45 Uhr an der Lordship Lane vorbeifuhr.

In der Nähe eine Gruppe junger Männer, die aus dem Haringey und Enfield-Amtsgericht herausgekommen waren und Hämmer schwangen.

Sie hatten der Versuchung widerstanden, Geschäfte zu plündern, hatten aber sieben Fenster des Gerichtsgebäudes zertrümmert. Es ist ein Ort, den einige Randalierer vermutlich aus ihrer Vergangenheit kennen. Andere werden wahrscheinlich in naher Zukunft dorthin vorgeladen werden.

Am Sonntag um16 Uhr, fast 24 Stunden, nachdem sich Demonstranten bei Tottenhams Polizeistation versammelt hatten, hörte man noch immer einen einzelnen Alarmton im Gerichtsgebäude schrillen.

Polizei und Feuerwehr waren noch nicht bis zum Amtsgericht vorgedrungen. Oder zum angrenzenden Bewährungshilfebüro, das bereits in Brand gesteckt worden war. Jetzt dampfte es im Regen vor sich hin.

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